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Woher eine Ethik nehmen?

Streitgespräch über Vernunft und Glauben

Erschienen am 18.03.2002
Bibliografische Daten
ISBN/EAN: 9783312002931
Sprache: Deutsch
Umfang: 152 S.
Format (T/L/B): 1.5 x 18.5 x 11.6 cm
Einband: gebundenes Buch

Beschreibung

Nach welcher Moral können wir leben, wenn wir nicht glauben? Der Disput zwischen dem Theologen Kurt Marti und dem Agnostiker Robert Mächler beschäftigt sich mit der Frage, ob humanistische Überzeugungen oder Grundsätze ohne Religion überhaupt möglich sind. Ob die Vernunft in der Lage ist, selbst die Basis und die Maßstäbe zu liefern für das, was zu den Grundwerten unserer bürgerlichen Gesellschaft gehört: Menschenrechte, Chancengleichheit, Respekt vor dem Leben.

Autorenportrait

Kurt Marti wurde 1921 in Bern geboren. Er studierte zunächst zwei Semester Rechtswissenschaft, dann in Bern und in Basel, wo ihn Karl Barth maßgeblich prägte, Theologie. Er war Pfarrer in Leimiswil, Niederlenz und von 1961 bis 1983 an der Nydeggkirche in Bern. Kurt Marti gehört zu den bedeutenden - und erfolgreichen - deutschsprachigen Gegenwartsautoren. Sein literarisches Werk umfasst Erzählungen, einen Roman, Gedichte, Tagebücher, Essays. Marti ist Ehrendoktor der theologischen Fakultät Bern, Mitbegründer der "Erklärung von Bern" und der "Gruppe Olten". Er erhielt zahlreiche Auszeichnungen, unter anderem den Grossen Literaturpreis der Stadt Bern und den Tucholsky-Preis für sein Gesamtwerk. Marti lebt in Bern. Robert Mächler, 1909 bis 1997, studierte an der Universität Bern. Lokalberichterstatter im 'Bund', dann des 'Badener Tagblatts'. Seit 1961 Schriftsteller und Journalist in Aarau, Mitarbeit an der Robert-Walser-Gesamtausgabe.

Leseprobe

Auf meinen Vorschlag hin haben Sie sich bereit erklärt, mit mir, einem Agnostiker und Kirchengegner, einen Briefwechsel über das Christentum zu führen. Ist das Christentum die rechte geistige Grundlage des einzelnen und der Gesellschaft? Dazu etwas Förderliches zu sagen, sei unser Bemühen. Der protestantische Theologe Gerhard Ebeling hat in einer masochistischen Anwandlung geschrieben: "Die theologische Bemühung ist vielfach geradezu pervertiert zu dem Bestreben, in erster Linie störende Zwischenfragen auszuschalten, die, an zünftigen Maßstäben gemessen, naiv und primitiv erscheinen, tatsächlich aber ganz elementar an den Kern der Sache rühren."1 Das ist mein Motto. Solche Fragen gedenke ich aufzuwerfen. Sprechen wir sofort vom Gründer und Grund des Christentums, von Jesus Christus. In Ihrem Buch "Zum Beispiel: Bern 1972" sagen Sie: "Jesus ist nie Richter gewesen, seine Haltung war die des Verteidigers von Angeklagten, Unterdrückten, Ausgestoßenen, sein Schicksal schließlich das des Gerichteten." Trotzdem, so bedauern Sie dann, sei "das unter Christen übliche Gottesbild dasjenige des Richters geblieben".2 Ist Jesus wirklich unschuldig daran? Seine Reden wider die Schriftgelehrten und Pharisäer haben einen höchst richterlichen Ton. Zwar mögen sich diese geistlichen Volksführer oft übel verhalten haben, was auch in außerbiblischen jüdischen Quellen bezeugt ist. Dennoch nehmen sich Beschimpfungen wie "Natterngezücht" und die Androhung der Höllenstrafe3 sonderbar aus im Munde dessen, der das Richten verbietet.4 Noch sonderbarer mutet es an, daß er, der selber so harte Worte gebraucht, für das einem Mitmenschen angeworfene Schimpfwort "Tor" die ewige Feuerqual androht.5 Wie unpsychologisch ist das gedacht! All die braven Schweizer, die ihre Mitmenschen mehr oder weniger harmlos mit "Dumme Chaib" traktieren, hätten danach die Hölle zu gewärtigen. Ebenso fragwürdig ist das Gleichnis vom reichen Mann und vom armen Lazarus.6 Reichtum und Lebensgenuß erscheinen da, ohne Angabe eines persönlichen Verschuldens, als Grund zu jenseitiger Verdammnis. Schon das Angeführte erregt Zweifel daran, daß Jesus ein vollkommener Menschenkenner war.7 Seine Vorstellung vom Weltgericht macht dies noch zweifelhafter. Hier ist der alttestamentliche Gott der diesseitigen, zeitlichen Vergeltung ganz und gar zum neutestamentlichen Gott der jenseitigen, ewigen Seligkeit und Verdammnis geworden. Jesus sieht sich selber, den "Menschensohn", als künftigen Weltrichter alle Menschen in Erwählte und Verdammte scheiden.8 Er nimmt also an, daß jeder der göttlichen Forderung entweder derart genüge, daß er von Gott angenommen, oder derart zuwiderhandle, daß er verworfen werden müsse.