0

Rückkehr in Feindesland?

Fritz Bauer in der deutsch-jüdischen Nachkriegsgeschichte, Jahrbuch 2013 zur Geschichte und Wirkung des Holocaust, Jahrbuch zur Geschichte und Wirkung des Holocaust

Erschienen am 10.09.2013, 1. Auflage 2013
Bibliografische Daten
ISBN/EAN: 9783593399805
Sprache: Deutsch
Umfang: 237 S.
Format (T/L/B): 1.5 x 21.3 x 14 cm
Einband: Paperback

Beschreibung

Als "Feindesland" soll Fritz Bauer die Welt außerhalb seines Büros bezeichnet haben. Der bedeutende Jurist und jüdische Remigrant hat im Nachkriegsdeutschland für seine Aufklärungsarbeit über die NS-Verbrechen sehr viel Ablehnung erfahren. Selten sind seine juristische Arbeit und sein politisches Handeln jedoch mit seiner jüdischen Biografie in Zusammenhang gebracht worden. Diese zeigt, dass es im Umfeld Bauers eine ganze Reihe jüdischer Juristen, Historiker und Vertreter von Interessenverbänden gab, die ihn unterstützten. Typisch für ihre und Fritz Bauers Situation in der Nachkriegszeit war, dass sie als Juden wahrgenommen wurden - unabhängig davon, ob sie sich selbst als solche sahen. Dieser Band schildert ihre Erfahrungen, die politischen und theoretischen Debatten, mit denen sie konfrontiert wurden, sowie die Institutionen, mit denen sie arbeiteten. Er charakterisiert die jüdische Geschichte im Land der Täter, in dem der erhoffte radikale Neubeginn sich als Illusion erwies.

Autorenportrait

Katharina Rauschenberger, Dr. phil., ist Programmkoordinatorin im Fritz Bauer Institut und Lehrbeauftragte am Historischen Seminar der Universität Frankfurt am Main.

Leseprobe

Nach einem Artikel in der Allgemeinen Wochenzeitung der Juden in Deutschland sprach Bauer vom Widerstand. Das hatte er schon öfter zuvor getan: Seit dem Prozess gegen den ehemaligen Generalmajor Otto Ernst Remer im Jahr 1952 am Landgericht Braunschweig entwickelte Bauer seine Theorie vom Widerstandsrecht eines jeden gegen ein bestehendes Unrecht auch in Fällen, in denen das Unrecht durch rechtliche Grundlagen legitimiert zu sein scheint. Ging es 1952 um die Rehabilitierung der Attentäter des 20. Juli, konnten diese 1964 bei der Würdigung der Widerstandskämpfer im Warschauer Ghetto nicht als Vorbilder dienen. Bauer entwarf hier widerständiges Handeln als ein Grundprinzip jüdischer Geschichte. Sein erster Bezug galt dem Buch Rut. Darin wird die Geschichte der Moabiterin Rut und ihrer Schwiegermutter Noomi erzählt. Nach dem Tod ihres Ehemannes folgt Rut ihrer Schwiegermutter zurück nach Bethlehem in Juda und setzt es durch, von den Juden in deren Gemeinschaft aufgenommen zu werden. Sie heiratet dort zum zweiten Mal und wird so eine Vorfahrin von König David. Bauer zog auch den Propheten Jeremias als Beispiel jüdischen Widerstands heran. Jeremias stellte sich gegen die Mehrheit des jüdischen Volkes, warnte vor dem Untergang Jerusalems, ermutigte die Juden, unbequem zu sein, und geriet selbst um der Wahrheit willen ins Abseits. Bauer sprach von der Standhaftigkeit der Juden angesichts des Befehls Nebukadnezars, die Götzen anzubeten. Er zitierte Flavius Josephus und verwies auf die Tapferkeit der Juden im Kampf gegen die römische Übermacht. Kurz, er zeichnete das jüdische Leben in seiner Rede als eines "in einer permanenten Widerstandshandlung gegen alles Unzulängliche". Man vergegenwärtige sich die Situation: Während einer Gedenkfeier mit Überlebenden des Holocaust und im Beisein von lokalen Politikern und Vertretern der Bundesregierung wählte Bauer Bilder von den Juden als der herrschenden Gemeinschaft, die Milde gegen Neumitglieder walten lassen solle. Wäre dies nicht eher eine Botschaft für die nichtjüdische deutsche Mehrheit gewesen, die keine zwanzig Jahre zuvor ganz offen die Juden ausgeschlossen hatte? Innerhalb der eigenen Gruppe, so Bauer, sollten die Juden für Wahrheit und den gottgefälligen Weg streiten. Wie Jeremias dürften sie dabei keine Rücksicht nehmen auf die möglicherweise damit einhergehende eigene Isolation. Judentum bedeute eine immerwährende Aufmerksamkeit und Bereitschaft zum Widerstand gegen das Unrecht. Der Bauer nach seiner Ansprache zuteilwerdende "überaus starke Beifall" als "Dank für die temperamentvollen, aufklärenden Worte" macht stutzig. Was genau begeisterte seine Zuhörer? War es die Rolle, die Bauer darin der jüdischen Gemeinschaft zugedacht hatte? Wie sah sie aus? Nach innen streng, nach außen milde, aber immer in der Sonderrolle der Widerständigen - war das die für die jüdische Gemeinschaft in Deutschland in den sechziger Jahren gültige Botschaft Bauers? In dieser Allgemeinheit sind die Prinzipien der Toleranz, der Wachsamkeit, des Mutes, der Rechtschaffenheit Werte, die man sich für alle Gemeinschaften wünscht. Bauer ermöglichte mit seinen Worten eine Vermischung der Gemeinschaften von Deutschen und Juden zu einem gemeinsamen "Wir", das sich nach innen wie nach außen demokratiebereit und widerständig gegen das Unrecht zeigen müsse und das den Juden eine tragende Rolle dabei zumaß. Dieses "Wir" ist es, was uns in den folgenden Aufsätzen immer wieder beschäftigt. Einigen Freunden gegenüber hat Fritz Bauer in den sechziger Jahren wiederholt die Bemerkung geäußert, wenn er sein Büro verlasse, betrete er feindliches Ausland. Auf der Tagung des Fritz Bauer Instituts im Oktober 2012, die die Grundlage für dieses Jahrbuch bildete, kreiste die Diskussion immer wieder um die Fragen seines Scheiterns und seiner Isoliertheit. Die Beiträge des vorliegenden Bandes nun sollen helfen, darüber mehr Klarheit zu bekommen. War Bauer in seinen politischen Zielen und Kämpfen isoliert? Wer waren seine Kombattanten? Wie sahen ihre Handlungsmöglichkeiten aus, wie ihre politischen Absichten? Welche Bezüge stellte Bauer in seinem theoretischen Denken her, welche Wirkung zeitigte er? In welchem Maß waren Bauers Erfahrungen die allgemeinen der jüdischen Remigranten in Deutschland? Der erste Abschnitt des Bandes behandelt die Beziehungen Fritz Bauers zu anderen jüdischen Remigranten der Nachkriegszeit. Liliane Weissberg beschäftigt sich in ihrem Beitrag eingehend mit dem von Bauer in vielen Situationen zitierten Satz "Was Du nicht willst, dass man Dir tu', das füg' auch keinem andern zu", der ihn als Lebensmaxime begleitete. Sie zeigt, wie Bauer diesen Leitspruch auf einen jüdischen Ursprung zurückführte und sich damit seinen eigenen Bezug zum Judentum schuf. Die zahlreichen theologischen, literarischen und philosophischen Zitate in Bauers Texten markierten die Verwurzelung seines Denkens in der deutschen Bildung, im Naturrecht, im Neuen wie im Alten Testament. Mit seiner juristischen und politischen Arbeit sei er im Nachkriegsdeutschland in die Rolle des Einzelgängers geraten - und dies trotz zahlreicher Kontakte und Freundschaften in der intellektuellen Szene Frankfurts. Katharina Rauschenberger vergleicht in ihrem Aufsatz die Biographien und politischen Ansichten Fritz Bauers und Henry Ormonds. Die beiden jüdischen Juristen waren nach ihrer Rückkehr zwar in ähnlichen Feldern aktiv, hatten jedoch ein unterschiedliches Verhältnis zu Deutschland. Katharina Stengel untersucht, in welcher Weise sich Fritz Bauer, Hermann Langbein und H.G. Adler zu ihrer Rolle als Überlebende und Opfer des Nationalsozialismus verhielten. Bemüht, NS-Verbrecher ausfindig zu machen und ihrem gerechten Urteil zuzuführen, sammelten sie unermüdlich Beweise und suchten nach Zeugen. Konflikte entstanden um die Einflussmöglichkeiten der Überlebenden auf die NS-Prozesse selbst, die auch Fritz Bauer beschränkt sehen wollte. Klaus Kempter schildert in seinem Beitrag die Geschichte des "Internationalen Dokumentationszentrums zur Erforschung des Nationalsozialismus und seiner Folgeerscheinungen" - ein Projekt des Holocaust-Überlebenden und autodidaktischen Historikers Joseph Wulf, das schließlich scheiterte. Kempter führt aus, dass Wulf, Bauer sowie alle anderen Personen, die sich für die Aufarbeitung der NS-Verbrechen einsetzten, Einzelkämpfer waren, deren Verbindung untereinander immer bloß punktuell, auf einen bestimmten Zweck gerichtet gewesen sei. Detlev Claussen zeichnet Fritz Bauer in seinem Beitrag als Mitglied der Gruppe von jüdischen Intellektuellen um Theodor W. Adorno und Max Hork­heimer. C­laussen begreift das "Wir" der Remigranten als eines, das durch die Erfahrung des Exils, aber auch durch die intellektuelle Anstrengung begründet war, das Geschehene, das Menschheitsverbrechen, analytisch zu erfassen. Diese Gruppe, so wird deutlich, war in besonderer Weise mit der Stadt Frankfurt verbunden und konnte hier Tradition bilden. Zwei Beiträge gehen der Frage nach, in welcher Weise Fritz Bauer außerhalb des "Wir" der jüdischen Remigranten wahrgenommen wurde und agierte. Ronen Steinke beschäftigt sich mit den schweren Anschuldigungen, die gegen Bauer während der Interview-Affären 1963 und 1965 erhoben wurden - Bauer hatte die Deutschen gegenüber ausländischen Zeitungen kritisiert. Man schloss den nonkonformen jüdischen Generalstaatsanwalt von der "Wir"-Gruppe der Deutschen aus und warf ihm vor, als ehemaliger Verfolgter in den Strafprozessen gegen NS-Verbrecher befangen zu sein. Nur von dieser Außenseiterposition aus habe er die Deutschen derart kritisieren können. Volker Rieß dagegen zeichnet Bauers Kooperationsbereitschaft als hessischer Generalstaatsanwalt gegenüber der "Zentralen Stelle der Landesjustizverwaltungen zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen" in Ludwigsburg akribisch nach. Dabei kommt er zu der Einschätzung, dass Bauer zumindest bis 1961 eng und vertrauensvoll mit Erwin Schüle, dem Leiter der Zentralen Stelle, zusammengearbeitet hat - obw...

Schlagzeile

Jahrbuch zur Geschichte und Wirkung des Holocaust