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Seteais

Tage mit Thomas Bernhard

Erschienen am 01.01.1992
Bibliografische Daten
ISBN/EAN: 9783900878887
Sprache: Deutsch
Umfang: 90
Format (T/L/B): 21.0 x 15.0 cm

Beschreibung

Lieber Thomas! Diese Anrede ist entweder vielsagend oder nichtssagend, lassen wir es offen, jedermann möge es selbst erfühlen, oder erahnen, wie es sein soll. Entscheidend ist nur, daß ich einen langen Brief an Dich schreibe, in dem ich unsere 17jährige Freundschaft ins Gedächtnis zurückrufe. In dieser Freundschaft haben wir manches gemeinsam erlebt, zusammen geweint und sehr gelacht, über vieles geredet, über das Leben, den Tod, über den Menschen und die Menschen, über den Sinn des Lebens, unsere Wünsche und Träume, über die Vergangenheit und eventuelle Zukunft. Zeitweise waren wir ins Philosophieren geraten, ein andermal kam nur total Unsinniges über unsere Lippen. Alle Höhen und Tiefen, die eine Freundschaft ausmachen, haben wir durchgemacht, aber niemals vom anderen etwas gefordert. Das mag der Grund gewesen sein, warum unsere gegenseitige Zuwendung so lange andauern konnte. Ohne viel Umschweife rede ich Dich ab jetzt mit dem „Du" an. Warum wir in den langen Jahren immer beim „Sie" geblieben sind, weiß ich nicht. War es aus Angst voreinander? Oder wollten wir die Schranke absichtlich zwischen uns legen? War uns wiederum diese Äußerlichkeit nicht so wichtig? Wie es auch gewesen sein mag. Du hattest Distanz vorgezogen, verbale wie physische, so fanden wir uns eben auf dieser Plattform. Es war erstaunlich, wie nah wir uns bei Gesprächen kommen konnten/ obwohl wir einige Meter voneinander entfernt saßen oder standen. Wenn zwei Menschen das gleiche gemeinsam erleben, so wird jeder der beiden das Erlebte auf seine Weise interpretieren, erfassen, wiedergeben, und das kann erstaunlich verschiedenartig sein, speziell auf das jeweilige Ich bezogen. Manches sah nur der eine, manches wiederum nur der andere. Alle Erlebnisberichte haben ihre eigene Färbung, demzufolge werden diese Zeilen kein genaues Realitätsbild Deiner Persönlichkeit wiedergeben. Wer kann das schon von sich selber, geschweige von einem anderen Wesen. Du wirst Dich einfach mit den fünf Sinnen einer Frau erfaßt sehen müssen, die ein kleines Stück Weges mit Dir gegangen ist, von der Du behauptet hast, daß sie Klavierspielen könne, eine gute Geschäftsfrau sei und vor allem sehr gut Briefe schreiben könne. Diese letzte Aussage von Dir nehme ich zum Anlaß, um jetzt sehr viel Komisches, Heiteres, Glückhaftes, Verständliches und Unverständliches, Lehrhaftes und Nachdenkliches durch meine Feder fließen zu lassen. Bestärkt durch Deine Worte, die Du einst an mich gerichtet hattest: „Lassen Sie sich durch nichts und niemanden beeinflussen, denken Sie nicht an Stil, besondere Ausdrucksformen, schreiben Sie in der Sprache Ihres momentanen Ichs, das ist nicht wiederholbar, das ist ehrlich und hat seine eigene Ausdruckskraft." Habe Dir vor Jahren von meinem 90jährigen Freund, einem in Indien lebenden Philosophen erzählt, der mir beigebracht hatte, das „Ich" in einem Brief nicht zu verwenden, statt dessen setzt man seinen eigenen Namen ein, oder selbst erwählte eigene Namen. Meistens hat er für sich das „egoji" gebraucht. Dieses „egoji" setzt sich aus dem lateinischen „ego" und der Verkleinerungsform „ji" aus dem Hindi zusammen. Nach dieser Methode müßte ich jetzt an Dich schreiben: „Das kleine Ich hat sich entschlossen. Dir, lieber Thomas, einen langen Brief zu schreiben." Ich bleibe aber bei der Art und Weise, die Du bei mir vorgezogen hast. Wenn wir uns ein bißchen über Briefe unterhalten könnten, dann könnte ich mit Sicherheit feststellen, daß dieser Brief, den ich jetzt schreibe, nicht in Deinen Papierkorb wandern würde. Habe hunderte an Dich gerichtete Briefe bei ihren Wanderungen und Entsorgungen mit eigenen Augen begleiten können. Mit der Zeit konnte ich Verständnis für diese strikten Durchführungen aufbringen. Du hast manchmal paketweise Briefe erhalten, und das viele Jahre hindurch. Ausgeschlossen, dies alles durchzulesen. Du hast Dich auf ein Minimum an Durchsicht der Briefe und Eingehen auf Briefe beschränkt. Sicherlich enttäuschend für die Adressaten, hart in mannigfacher Weise, aber notwendig, um frei denken, arbeiten und leben zu können. Ein Großteil der ungelesenen Papiere wanderte in den großen, offenen Kamin in einem Deiner Nordzimmer im Parterre. Der Kamin war riesengroß und zum Teil von Dir selbst aufgestellt, gemauert. Deine Besucher haben Dich öfters gefragt, warum er denn so groß ausgefallen wäre. Dann war Deine stereotype Antwort: „Für ungebetene Gäste". […]